Beim paritätischen Wechselmodell, auch Doppelresidenz oder Shared Parenting genannt, handelt es sich um die fortschrittliche und moderne Getrennterziehung durch beide Eltern statt des alleine Erziehens durch nur ein Elternteil nach Trennung der Eltern. Die internationale Familienforschung hat schon lange geklärt, dass diese Getrennterziehung den Interessen der Kinder am besten entspricht und die vorrangigen Kinderrechte sichert (vgl. u.a. die Metastudie von Linda Nielsen, Joint versus sole physical custody: Outcomes for children independent of family income or parental conflict, 2018).
Beim so verstandenen Wechselmodell handelt es sich um eine Betreuungsform nach Trennung der Eltern, die sich im Einklang mit den Grund-, Menschen-, Kinder- und Bürgerrechten befindet – wie nachfolgend dargelegt wird. Auf Grundlage der einschlägigen Grund-, Menschen-, Kinder- und Bürgerrechte ist das Wechselmodell vom Staat zu präferieren bzw. zu garantieren.
- Das Wechselmodell befindet sich im Einklang mit dem Grundgesetz, weil es der vom Bundesverfassungsgericht geforderten Erziehung von Kindern nach dem Menschenbilde des Grundgesetz (GG) entspricht, und zwar weil es als gleichberechtigte und gleichverpflichtete Elternschaft nach Trennung der Eltern, die Maßgabe des Art. 3 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG erfüllt, was im systematischen Zusammenhang auch dem Grundrecht von Kindern auf beide Eltern nachkommt (s.u.).
- Das Wechselmodell befindet sich im Einklang mit den Menschenrechten, da es identisch mit dem vom Europarat in der Resolution 2079 geforderten Shared Parenting ist, welches im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) das Menschenrecht auf beide Eltern ist (s.u.).
- Das Wechselmodell befindet sich im Einklang mit den Kinderrechten, weil es die geteilte elterliche Verantwortung nach Maßgabe der Kinderrechtskonvention (KRK) der Vereinten Nationen sicherstellt, wie der Ausschuss der Rechte des Kindes u.a. im Allgemeinen Kommentar Nr. 14 festlegt und fordert, weshalb es dem Kinderrecht auf beide Eltern entspricht (s.u.).
- Das Wechselmodell befindet sich im Einklang mit den bürgerlichen und politischen Rechten, da in Art. 23 Abs. 4 IPbpR die Gleichberechtigung der Ehegatten während und nach der Ehe festgeschrieben ist (s.u.).
Hinzu kommt, dass das Wechselmodell dem Rechtsempfinden von 77% der Bevölkerung entspricht (s. Allensbach-Umfrage für das Bundesfamilienministerium BMFSFJ, IfD-Umfrage 11063 (Okt./Nov. 2016)) und somit den gesellschaftlichen Rechtskonsens darstellt.
Wechselmodell in GG und EMRK
Nach der Rechtsprechung des BVerfG bildet das Kindeswohl die oberste Richtschnur bzw. den Richtpunkt der Elternverantwortung (BVerfGE 24, 119, 144; BVerfGE 59, 360, 376; BVerfGE 60, 79, 88; BVerfGE 107, 104, 117; BVerfGE 133, 59 (Rn. 43)). Dabei ist es von der Überlegung ausgegangen, dass die Anerkennung der Elternverantwortung und der damit verbundenen Rechte (die Rechte eines Menschen an der Person eines anderen Menschen umfassen) mit Blick auf die Würde jedes Menschen (auch des Kindes) ihre Rechtfertigung darin findet, dass das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln, wie sie dem Menschenbilde des Grundgesetzes entspricht.
Darüber müsse der Staat wachen und notfalls das Kind, das sich noch nicht selbst zu schützen vermag, davor bewahren, dass seine Entwicklung durch einen Missbrauch der elterlichen Rechte oder eine Vernachlässigung Schaden leidet (BVerfGE 24, 119, 144). Das Kindeswohl ist zunächst vor allem in diesem Sinne zu verstehen (BVerfGE 24, 119, 144; BVerfGE 107, 104, 117). Analog ergibt sich der vom Bundesverfassungsgericht formulierte Wesensgehalt des Kindeswohl auch aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), und zwar aufgrund des Schutz der Familie (Art. 8 EMRK).
Dem Grundgesetz und der EMRK immanent ist, dass Kinder qua Geburt Grundrechtsträger sind und auch das Recht haben, nach dem Menschenbilde des Grundgesetz und der EMRK erzogen zu werden. Entsprechend der Ausführungen des Bundesverfassungsgericht zum Kindeswohl haben das Grundgesetz (und analog die EMRK) nicht lediglich theoretische, sondern praktische Relevanz. Es geht nicht nur darum, dass Kinder über ihre Grundrechte aufgeklärt werden, sondern dass sie diese Grundrechte erleben und leben dürfen. Ansonsten wären Grundrechte für Kinder nur theoretisch relevant, würden in ihrer Lebenswirklichkeit jedoch missachtet.
Nichts anderes ist gemeint, wenn das Bundesverfassungsgericht ausführt, dass das Kind des Schutzes und der Hilfe bedarf, um sich zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit innerhalb der sozialen Gemeinschaft zu entwickeln. Optimal entwickeln kann sich ein Kind dementsprechend nur, wenn die Einhaltung von Grundrechten zu seiner Lebenswirklichkeit gehört (vgl. auch § 1 Abs. 1 SGB VIII).
Das oben gesagte soll nun unter dem Begriff „Kindeswohl-Werte“ subsumiert werden.
Zwar sind die Bürger nicht an das Grundgesetz und die EMRK gebunden, die staatlichen Organe jedoch sehr wohl und sie haben das Verhalten der Bürger anhand der Grundrechte und speziell das von Eltern anhand der Kindeswohl-Werte zu bewerten, um dem staatlichen Wächteramt gerecht zu werden.
Zum Menschenbilde des Grundgesetz gehört die Gleichberechtigung der Eltern (Art. 3 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 2 GG), wie auch in der EMRK (Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK). Dies spiegelt sich darin wieder, dass der Schutz des Elternrechts, Vater und Mutter gleichermaßen zukommt (vgl. BVerfGE 84, 168 <180>; 107, 150 <173>). Entsprechend sind Kinder im Sinne der Gleichberechtigung und damit im Sinne des Menschenbildes des Grundgesetz bzw. der EMRK zu erziehen, da nur dies dem grundrechtskonformen Kindeswohl entspricht. Das Wechselmodell ist folglich ein vom Gericht den Eltern und den Kindern zu garantierendes Grundrecht im Sinne der Gleichberechtigung der Eltern (d.h. Art. 3 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 2 GG) und somit ein integraler Teil des durch die Grundrechte des Bürgers statuierten Wertordnung bzw. Wertesystems (vgl. 1 BvR 400/51).
Nicht umsonst fordert die Resolution 2079 im Rahmen der EMRK explizit die Gleichberechtigung der Eltern:
„Within families, equality between parents must be guaranteed and promoted […]”.
Die Resolution 2079 weist unter Punkt 3 auf die Relevanz des Art. 8 EMRK für die Eltern-Kind-Beziehung hin:
„The Assembly wishes to point out that respect for family life is a fundamental right enshrined in Article 8 of the European Convention on Human Rights (ETS No. 5) and numerous international legal instruments. For a parent and child, being together is an essential part of family life. Parent–child separation has irremediable effects on their relationship. Such separation should only be ordered by a court and only in exceptional circumstances entailing grave risks to the interest of the child.”
In seiner Görgülü-Entscheidung hat das Bundesverfassungsgericht der EMRK – im Unterschied zu anderen völkerrechtlichen Verträgen – eine besondere Bedeutung zugemessen. Dies beruhe auf dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. Danach ist die gesamte deutsche Rechtsordnung, einschließlich der Grundrechte, im Lichte der EMRK auszulegen, soweit dies mit dem Wortlaut des Grundgesetzes vereinbar ist (BVerfGE 111, 307, 317 – Görgülü; ebenso aus der jüngsten Rechtsprechung BVerfGE 131, 286, 295 – Sicherungsverwahrung II.). Die Regelungen der EMRK seien „Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes“. Daraus folge, dass „die entsprechenden Texte [der EMRK] und Judikate [des EGMR] zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen“ müssen (BVerfGE 111, 307, 324 – Görgülü.).
Familiengerichtliche Beschlüsse müssen daher nicht nur auf den Mittelpunkt des Wertesystems des GG, sondern auch der EMRK ausgerichtet sein (vgl. 1 BvR 578/63).
Wechselmodell in KRK
Punkt 67 des Allgemeinen Kommentar Nr. 14 des Ausschuss der Rechte des Kindes zur Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, schreibt dezidiert das Recht von Kindern fest, den Kontakt zu beiden Eltern aufrecht zu erhalten und dass dabei die geteilte elterliche Verantwortung („shared parental responsibility”) zu präferieren ist – was dem Wechselmodell entspricht:
„The Committee is of the view that shared parental responsibilities are generally in the child’s best interests. However, in decisions regarding parental responsibilities, the only criterion shall be what is in the best interests of the particular child. It is contrary to those interests if the law automatically gives parental responsibilities to either or both parents. In assessing the child’s best interests, the judge must take into consideration the right of the child to preserve his or her relationship with both parents, together with the other elements relevant to the case.”
In jedem Fall haben deutsche Gerichte die Kinderrechtskonvention im Rahmen vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden. Nach der lex-specialis-Regel gilt der Grundsatz, dass die spezielle Vorschrift die allgemeine verdrängt (vgl. Hendrik Cremer, DIMR: Die UN-Kinderrechtskonvention. Geltung und Anwendbarkeit in Deutschland nach Rücknahme der Vorbehalte, 2011, S. 20). Demnach sind mehrere Normen, wenn möglich, so zu interpretieren und anzuwenden, dass sie miteinander vereinbar sind. Die speziellere Vorschrift erhält so einen Anwendungsbereich, ohne dass die Geltung der allgemeinen Vorschrift grundsätzlich in Frage gestellt wird. Ein früherer völkerrechtlicher Vertrag kann also einem späteren Gesetz auch dann vorgehen, wenn er die speziellere Regelung enthält. Da es unwahrscheinlich ist, dass der Gesetzgeber gegen eine völkerrechtlich eingegangene Verpflichtung verstoßen will, ist regelmäßig davon auszugehen, dass völkerrechtliche Regelungen durch eine gesetzliche Neuregelung nicht tangiert werden sollen.
Die allgemeinen Kommentare (General Comments) des Ausschuss der Rechte des Kindes (Committee on the Rights of the Children) der Vereinten Nationen sind in diesem Zusammenhang als verbindliche handlungsleitende Hinweise zur KRK durch Familienrichter zu berücksichtigen.
Wechselmodell im IPbpR
Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), auch UN-Zivilpakt genannt, garantiert in Art. 23 Abs. 4 IPbpR, sozusagen als Gegenstück zur Präferenz des Wechselmodells in der KRK, die Gleichberechtigung der Ehegatten während und nach der Ehe.