Einst wurden in Deutschland Scheidungen nach dem Schuldprinzip entschieden. Wer zum Beispiel durch eine außereheliche Affäre der Ehe schadete, musste nach der Scheidung mit Nachteilen rechnen. 1977 wurde das Schuldprinzip mit dem Zerrüttungsprinzip ersetzt.
Fortan überließen es die Gerichte dem getrennten Paar, den Schuldigen ausfindig zu machen. Dies führte zu Trennungen, wie sie heutzutage ablaufen, in denen man sich gegenseitig das Scheitern vorwirft. Schuld ist immer der andere. Wer fremdgegangen war, reklamiert für sich, dass die Ehe sowieso schon tot war. Der betrogene Partner wirft dem anderen vor, dass dieser nie wahrhaftig zu ihm war…und es gibt noch viele weitere Szenarien des Eheversagens und der Schuldzuweisungen.
Die dahinter liegende Chance ergreifen nur wenige getrennte Ehepartner: Seine eigene Schuld zu sehen. Konflikthafte Trennungen sind Machtkämpfe, in denen sich die einstigen Liebenden gegenseitig verletzen. Das Dramadreieck ist in vollem Gange und die Opfer- und Täterrolle werden ständig getauscht.
Der Machtkampf hat jedoch einen Sinn. Laut Paartherapeut David Schnarch ist der “normale eheliche Sadismus” dazu da, uns zu besseren Menschen zu machen. Das ist jedoch nur möglich, wenn wir unsere eigene brutale, gewalttätige, unmenschliche Seite erkennen. Wenn wir erkennen, wie wir im Ehestreit unseren Partner verletzt haben, dann übernehmen wir Verantwortung für unser Handeln.
Erst mit dieser Einsicht ist es möglich, dem Ex-Partner die Hand zu reichen und zu sagen: Bitte entschuldige, was ich dir angetan habe! Wer wartet, bis der andere zur selben Einsicht gelangt ist, der spielt das Spiel weiter. Vergebung ist nur möglich, wenn man wahrhaftig seine Schuld erkennt, mitteilt und sich selbst dafür vergibt. Dahinter steckt, dass man die eigenen menschlichen Abgründe und die eigene Verletzlichkeit anerkennt.
Das Schuldprinzip mag juristisch keine Rolle mehr spielen. Im persönlichen Wachstum eines Paares, nicht nur der Geschiedenen, spielt es eine wichtige Rolle. Jedoch nicht im moralisch-strafrechtlichen Sinn, dass es einen Schuldigen geben muss, sondern im Sinne der Eigenverantwortung. Erst wenn man nicht mehr dem anderen Schuld für seine Situation gibt, übernimmt man die Verantwortung für das eigene Leben und kann es gestalten.
Indem die bis 1977 praktizierte gerichtliche Suche und Bestrafung eines Ehebrechers aufgegeben wurde, haben wir die Freiheit erlangt, unsere eigene Schuld zu erkennen und frei zu leben. Ein weiterer wichtiger Schritt und eine nötige Konsequenz aus der Abschaffung des Schuldprinzips ist, dass Schuldzuweisungen auch bei der Zuteilung der Kinder keine Rolle mehr spielen und stattdessen das Recht der Kinder auf beide Eltern gewahrt wird.
[…] Da sich unsere Gesellschaft immer mehr aus ihren traditionellen Strukturen löst und durch die persönliche Freiheit mehr Wahlmöglichkeiten entstehen, kann man sich freier entfalten. […]
[…] Wenn Männer wie Frauen ihre negativen Seiten erkennen, dann erst können sie die Verantwortung für ihr Handeln übernehmen, sich selbst vergeben, die eigenen menschlichen Schwächen und die der anderen akzeptieren. Wer seine eigene Schuld am Geschlechterkampf erkennt, der findet zur Liebe. […]