Was ist dran an der Ansicht, dass Kinder die engste emotionale Bindung zur Mutter haben? Ist dies automatisch so, weil die Mutter die erste und wichtigste Bezugsperson ist?
Jochen König schreibt in der Emma: “Meistens hat die Mutter ein engeres Verhältnis zum Kind. Und das nicht qua Natur, sondern vor allem deshalb, weil die wenigsten Väter nach der Geburt für mindestens ein Jahr zuhause geblieben sind, dafür aber 96 Prozent aller Mütter. In wenigen Bereichen ist die Aufteilung der Zuständigkeiten nach Geschlecht so eindeutig.”
In diesen Sätzen steckt die Idee, dass die Tiefe der emotionalen Bindung davon abhängt, wer sich von Anfang an um das Kind kümmert, und zwar unabhängig vom Geschlecht. Das heißt, kümmern sich Vater und Mutter gleich viel um ein Neugeborenes, dann ist die frühe Prägung zu beiden gleich groß.
Ist alles verloren, wenn man zu spät in die Kinderbetreuung einsteigt?
Der Emma-Autor schreibt dazu: “Die Mehrzahl der Väter entscheidet sich nach der Geburt eines Kindes dagegen, eine gleichwertige Bezugsperson für das Kind zu werden, und dafür, die Hauptverdienerrolle zu übernehmen. (Werdende) Väter müssen sich bewusst machen, dass es sich dabei um eine weitreichende Entscheidung handelt, die nicht rückgängig zu machen ist und die nicht nur an die Beziehung mit der Mutter des Kindes geknüpft ist, sondern die sich auch unabhängig von der Mutter dauerhaft auf die eigene Beziehung zum Kind auswirkt. Der Beziehungsvorsprung der Mutter aus dieser ersten Zeit ist danach kaum noch aufzuholen.”
Hier stimme ich ihm nicht zu, denn Prägung ist nicht das einzige, was familiäre Beziehungen ausmacht. Prägung ist, woher wir kommen, wie man uns definiert hat – aber wo gehen wir hin, wie definieren wir uns selbst?
Hier kommt der Wille, die freie Entscheidung ins Spiel. Wer will ich sein, wer sind meine Freunde, wer soll mein Partner / meine Partnerin werden?
Wer familiäre Beziehungen hauptsächlich vom Standpunkt der (frühen) Prägung her sieht, der übersieht die Möglichkeit, dass wir jederzeit wählen können, wer wir sein wollen.
Das Prinzip der emotionalen Bindung ist in unserer Gesellschaft mütterlich, während das Prinzip des freien Willens zur väterlichen Rolle gehört. Der freie Wille kann das ganze restliche Leben entwickelt und ausgeprägt werden. Väter haben also jederzeit die Chance, mit ihren Kindern auf dieser Ebene in Kontakt zu treten.
Abgesehen davon sollten diese beiden Prinzipien ohnehin nicht im Sinne der traditionellen Rollenaufteilung gesehen werden. Beide Geschlechter sollten beide Prinzipien leben. Väter und Mütter sollten sowohl die emotionalen wie auch die rationalen Qualitäten einer Beziehung leben und ihren Kindern vermitteln.