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Der Mythos der harmonischen Familie im herrschenden Familienrecht

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Der Mythos der harmonischen Familie unterdrückt Pluralismus und Meinungsfreiheit. Wir brauchen ein modernes Familienrecht, das Vielfalt und Dissens anerkennt – zum Wohl der Kinder und Eltern.

Das herrschende Familienrecht in Deutschland basiert noch heute auf dem Mythos der harmonischen Familie, wie es in der Bundesdrucksache II/224 zum seit 1958 geltenden § 1627 BGB deutlich wird. Das Zitat stellt klar:

„§ 1627 des Entwurfs stellt Grundsätze für die gemeinsame Ausübung der elterlichen Gewalt durch Vater und Mutter auf, die sich aus der natürlichen Ordnung des Familienlebens ergeben; sie sollen verpflichtende Richtlinien für die Eltern sein. Die Eltern müssen sich bei allem, was sie in Ausübung der elterlichen Gewalt tun, ihrer eigenen Verantwortung für das Kind bewußt sein, die ihnen grundsätzlich niemand abnehmen kann, auch nicht das Gesetz oder die Entscheidung einer staatlichen Behörde. In einer guten und harmonischen Ehe, in der Mann und Frau nicht ihre individuellen Rechte betonen, sondern sich der aus der ehelichen Lebensgemeinschaft erwachsenden Pflichten bewußt sind, wird die elterliche Gewalt im gegenseitigen Einvernehmen ausgeübt; das Wohl des Kindes ist dabei oberste Richtschnur. Jede Gemeinschaft, besonders aber die Familie, bedarf zu ihrem Gedeihen der gegenseitigen Rücksichtnahme und der Anpassung ihrer einzelnen Glieder.

Die Eltern müssen sich in den grundsätzlichen Fragen der Erziehung ihrer Kinder einig werden. Die Erziehung des Kindes im einzelnen und die Besorgung seiner Angelegenheiten wird je nach der Aufgabenteilung, die die Verhältnisse der Familie mit sich bringen, häufig dem einen oder anderen Teil allein obliegen. Die gemeinsame elterliche Gewalt von Vater und Mutter braucht nicht in jedem Falle zu gemeinsamer Beratung und Entscheidung und zum gemeinsamen Handeln zu führen. Jeder Elternteil muß dem Kinde gegenüber eine selbständige Autorität haben. Das Kind muß wissen, daß der Wille eines Elternteils auch der Wille des andern ist. Jeder Elternteil muß aber bei seinen Maßnahmen auf den wirklichen oder mutmaßlichen Willen des anderen Rücksicht nehmen. Dies wird im Gegensatz zum Entwurf I in § 1627 des vorliegenden Entwurfs nicht mehr ausdrücklich gesagt; es ergibt sich als selbstverständlich daraus, daß die Eltern die elterliche Gewalt in gegenseitigem Einvernehmen auszuüben haben.

Entsteht in einer Angelegenheit des Kindes eine Meinungsverschiedenheit der Eltern, so entspricht es dem Wesen der ehelichen Lebensgemeinschaft und den Erfordernissen des Familienlebens, daß die Eltern versuchen, sich zu einigen. Die Einigung muß einmal dem wohlverstandenen Interesse des Kindes entsprechen, zum andern den Verhältnissen der Familie, insbesondere auch ihren wirtschaftlichen Verhältnissen angemessen sein.”

Dieser Text beschreibt eine romantisierte Vorstellung von Familie, in der Harmonie, Einvernehmen und die Unterordnung individueller Rechte der Eltern zugunsten des „Wohls des Kindes“ das Ideal sind. Die zugrunde liegende Annahme ist, dass eine harmonische Ehe die Grundlage für eine funktionierende Familie bildet. Dabei wird die Familie als eine natürliche, fast „gottgegebene“ Einheit dargestellt, in der die Interessen der einzelnen Mitglieder automatisch zum Wohl des Kindes in Einklang gebracht werden.

Der Mythos der Familie und seine Problematisierung

Desiree Waterstradt verweist in ihrem Buch “Prozess-Soziologie der Elternschaft” darauf, dass das heutige Konzept von Familie sowie die damit verbundenen Vorstellungen von Elternschaft, Kindheit und Jugend stark von mythischem Wissen geprägt sind. Solche mythischen Konzepte bieten zwar Orientierung, jedoch mit einer stark eingeschränkten Wirklichkeitsnähe. Waterstradt argumentiert, dass die emotional aufgeladene Vorstellung einer harmonischen Familie, wie sie auch in der Bundesdrucksache II/224 beschrieben wird, auf einem Wissen mit einem hohen Maß an emotivem Phantasiegehalt basiert. Dieses Wissen ist wenig wirklichkeitsgerecht, weil es die komplexen und oft konfliktreichen Dynamiken innerhalb von Familien ignoriert und stattdessen ein idealisiertes Bild von Einheit und Harmonie zeichnet.

Waterstradt zitiert den Soziologen Norbert Elias, der diesen Zustand als eine „Doppelbinderfalle“ beschreibt: Die starke Emotionalität der Vorstellung von Familie, kombiniert mit der geringen Kontrolle über die tatsächlichen Gefahren und Herausforderungen innerhalb der Familie, blockiert die Weiterentwicklung des Wissens über Familie und Elternschaft. So bleibt die Vorstellung von Familie in einem mythischen Rahmen gefangen, der weder den realen Bedürfnissen noch den sozialen Herausforderungen gerecht wird.

Der Mythos der „natürlichen Ordnung“

Ein weiterer kritischer Punkt im Zitat aus der Bundesdrucksache II/224 ist die Behauptung, dass die in § 1627 festgelegten Grundsätze der elterlichen Gewalt „sich aus der natürlichen Ordnung des Familienlebens ergeben“. Dieser Hinweis auf eine „natürliche Ordnung“ stützt die Idee, dass Familie und Elternschaft naturgegebene, unveränderliche Strukturen seien, die lediglich anerkannt und umgesetzt werden müssten.

Waterstradt hinterfragt diese Vorstellung und zeigt auf, dass Familie und Elternschaft oft als „natürlich“ empfunden werden, obwohl sie kulturell und sozial konstruiert sind. Empirische Befunde der Wissenschaften, die zeigen, dass Familie und Elternschaft vielfältig und dynamisch sind, werden in diesem mythischen Rahmen oft relativiert. Stattdessen hält sich hartnäckig das Bild der „natürlichen“ Familie, in der Harmonie und Einigkeit herrschen. Diese Sehnsucht nach einer vermeintlich natürlichen Familienordnung fördert eine antiintellektuelle Haltung, die die gesellschaftliche Weiterentwicklung von Familienkonzepten blockiert.

Der Preis der Harmonie: Unterdrückung von Dissens

Die Bundesdrucksache spricht davon, dass Eltern bei Meinungsverschiedenheiten „versuchen müssen, sich zu einigen“. Dies spiegelt das Idealbild einer Familie wider, in der Dissens als Problem angesehen wird, das gelöst werden muss, um das Wohl des Kindes zu gewährleisten. Dieser Zwang zur Harmonie ignoriert jedoch die Realität, dass Meinungsverschiedenheiten ein natürlicher Bestandteil von Beziehungen sind – auch in der Familie.

Anstatt Pluralismus und unterschiedliche Erziehungsansichten zuzulassen, wird hier die Einigung als das höchste Gut dargestellt. Dies führt dazu, dass der individuelle Handlungsspielraum der Eltern eingeschränkt wird und ihre Meinungsfreiheit geopfert wird, um eine äußere Harmonie aufrechtzuerhalten. Dies steht im Gegensatz zu den demokratischen Prinzipien von Meinungsfreiheit und Pluralismus, die in anderen gesellschaftlichen Bereichen als selbstverständlich gelten.

Fazit

Der Mythos der harmonischen Familie, wie er in der Bundesdrucksache II/224 dargestellt wird, ist ein überholtes Konzept, das auf mythischem Wissen und emotionalen Idealen basiert. Anstatt die Vielfalt und die realen Herausforderungen moderner Familien anzuerkennen, wird ein Bild der Familie gezeichnet, in dem Harmonie und Einigkeit um jeden Preis gewahrt werden müssen. Dieses Ideal unterdrückt den Dissens, der ein natürlicher Bestandteil jeder Beziehung ist, und verhindert die Weiterentwicklung eines pluralistischen Familienrechts, das den Vielfalt der Erziehungsansichten gerecht wird. Der Preis dieser Harmonie ist die Meinungsfreiheit der Eltern und letztlich auch das Wohl des Kindes, das in einer starren, autoritären Familienstruktur aufwachsen muss.

Autor

  • Sandro Groganz

    Chefredakteur - Ich habe Freifam gestartet, um mit meiner eigenen Situation als geschiedener Vater besser umgehen zu können. Was ich mir von der Seele schrieb, berührte andere Menschen mit ähnlichen Schicksalen. Da erkannte ich, dass Freifam das Potential zu einer neuartigen Bewegung für Familien hat. In diesem Sinne sehe ich mich als Familien-Aktivist.

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1 comment

  1. Name*... 31 Oktober, 2024 at 12:39 Reply

    Wir brauchen kein modernes Familienrecht.
    Wir brauchen einfach weniger Väter wie sie!
    Dann klappts auch wieder mit der Familie.

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